1918 – 1983

Warenwelten – Anzeigen und
Konsum rund um die Kammerspiele

Erscheinung

  • Aufbruch in die faszinierende Welt der Theaterwerbung: Theaterzettel der Münchner Kammerspiele aus dem Jahr 1918, der relativ wahllos neben Damenschneidern oder dem Kaufhaus Ludwig Beck auch Vertreiber von Potenzmittel und okkulte Buchhandlungen zu seinen Inseratskunden zählt.

  • In den 1920ern verwaltet der Thespis-Verlag die Inseratsanteile in den Programmheften beinahe jeden Kinos, Theaters und bekannteren Kabaretts der Stadt. Durch die doppelte Schriftführung verblüffend selbstironische Werbung des Verlags in der Zeitschrift Das Programm. Blätter der Münchner Kammerspiele 1925.

  • Bei der Flut an Inseraten für Unterwäsche, Innenausstatter, Restaurants oder Bank- Institute mutet diese ebenfalls in den 1920ern regelmässig gedruckte Eigenwerbung des Verlags der Zeitschrift Das Programm. Blätter der Münchner Kammerspiele beinahe hilflos an.

  • 1926, die Beendigung der Hyperinflation durch Einführung der Rentenmark 1924 hat den Konsum angekurbelt, ist der Inseratenteil auf Theaterzetteln der Kammerspiele umfangreicher als die eigentliche Stückankündigung.

  • Darunter sind auch so bizarre Anzeigen wie dieser für eine Kopfapparatur zur Straffung des Gesichts, angeboten von einem Schönheitssalon in der Dienerstraße.

  • Als Produktwerbung getarntes Politikum. Ab 1929 nehmen rechtsnationale Tendenzen auch in der Konsumwelt rund um die Kammerspiele zu. Anzeige ohne Firmenname aus Das Programm. Blätter der Münchner Kammerspiele.

  • So theaterunspezifisch die Produktwerbung vor dem 2. Weltkrieg war, so streng kammerspielereferenziell wird sie in den 1950er Jahren. Inserat in der AEG im Jubiläumsheft 50 Jahre Schauspielhaus 25 Jahre Kammerspiele im Schauspielhaus 1951.

  • (ohne Titel)

  • Wobei sich die Frage stellt: Hat der durchschnittliche Theaterbesucher in der Maximilianstraße Bedarf an 2000-Watt-Scheinwerfern...

  • ... oder gar einer eigenen Theaterbestuhlung?

  • Inserat von Emil Sachs Holzbearbeitungsmaschinen im Jubiläumsheft 50 Jahre Schauspielhaus 25 Jahre Kammerspiele im Schauspielhaus 1951. Wahrscheinlicher als das Abzielen auf Konsumentenbedürfnisse ist wohl, dass die Kammerspiele über die aufgenommene Produktwerbung gezielt ein Selbstbild als technisch fortschrittliches Theaterunternehmen entwerfen.

  • Brandy für die Herren, Pelze für die Damen: von den 1950er Jahren an bis 1980 gehören die letzten beiden Seiten der Kammerspiele-Programmhefte durchweg dem österreichischen Weinbrandhersteller Stock und der Münchner Pelzwarenhändlerin Victoria Körper, die, wie man einem Artikel der Zeitschrift DER SPIEGEL zur Neueröffnung des Nationaltheaters 1963 entnehmen kann, in dieser Zeit eine Art High-Society-Expertin der Stadt war.

  • In die Irre geführt: Diese Anzeigen von Wahrsagern, Wunderheilern und Horoskopdeutern gehören, obwohl ganz im Stil der Zeit gehalten, nicht zum Inserateteil, sondern sind Teil der Illustrationen des Programmhefts zur Premiere von Ben Jonsons satirischer Komödie Der Alchimist im Schauspielhaus 1967.

  • Um so ernster gemeint ist dafür diese ganzseitige Werbung für eine Waschmaschine von AEG, die der solcherart entlasteten Hausfrau „Zeit für die schönen Dinge des Lebens – für Theater und Konzert“ lässt. Seit den 60ern sind Agenturen bemüht, in solchen Werbeanzeigen für Programmhefte einen Bezug zwischen Produkt und Theater herzustellen – auch wenn dieser bisweilen unfreiwillig humoristisch gerät.

  • Prosit 1971! In diesem Jahr zeigt sich noch einmal die enge Verbindung der Riemerschmid-Dynastie mit dem Schauspielhaus: von Richard Riemerschmid, dem Enkel des Firmengründers Anton Riemerschmid, entworfen und seinem Bruder Karl finanziert, wird es 1970 vom Architekten Reinhard Riemerschmid, Großneffe Richard Riemerschmids, renoviert. Heinrich Riemerschmid, aktueller Nachfolger auf dem Firmensitz, stiftet dazu diese kleinen Prozellanfläschchen gefüllt mit Maracujalikör. Aus der Sondersammlung zu den Münchner Kammerspielen in der Bibliothek der Monacensia München (und noch immer verkorkt!).

  • Der Bezug Theater und Produkte kann allerdings auch disharmonisch ausarten: Werbung des Filmcasino am Odeonsplatz für eine Verfilmung von Ibsens Die Wildente, die „das zeigt, was das Theater nicht zeigen kann“. Aus einem Programmheft der Kammerspiele 1976.

  • Auch wenn es bisher sorgfältig ausgespart wude: Werbung für diverse Biere und Bierkeller gehört natürlich seit 1918 zu den häufigsten Inseraten in den Publikationen der Kammerspiele. Anzeige von Löwenbräu in den Programmheften aus den 1980ern. Hier endet auch die Reise durch die Welt der Theaterwerbung. Warum? Mit der Intendanz Dieter Dorns ist Werbung Zug um Zug aus den Programmheften verschwunden, die Ausgaben von 1997 bis 2001 erscheinen gar komplett anzeigenfrei. Auch ein ähnliches Statement wie anno 1951: Wer künstlerisch derart erfolgreich ist, braucht keine Einnahmen aus Anzeigenverkäufen mehr.

Was so ein Programmheft nicht alles sein kann: Infoblatt, eine kleine Landkarte des Abends, ein Quell historischer Zusatzinformationen, Anstoßsammlung philosophischer Diskurse, ein Souvenir und bisweilen kleines Designschmuckstück auf Papier.

Was es aber auch sein kann: ein Querschnitt durch Münchens Konsumwelt, ein vice-versa-Blick der Wirtschaft auf das Theater als Tummelplatz kaufkräftiger Zuschauer und Ort für besonders gediegenes Product Placement – das zumindest in den vergangenen 40 Jahren. Davor hat es nichts gegeben, was nicht in einem Programmheft oder einem Theaterzettel der Münchner Kammerspiele beworben werden konnte.

Von Potenzmitteln, Damenwäsche und Gesichtsstraffungsapparaten in den ausgelassenen Zwanziger Jahren, eine komplette Theaterausstattung in der Wirtschaftswunderzeit bis hin zu theaterfeindlicher Filmwerbung, nobler Karosserie, feinen Bränden und üppigen Pelzen … – nimmt man die Auswahl der Inserenten und Werbepartner der Kammerspiele als Charakterisierung ihres Publikums, oszilliert das in einem Jahrhundert zwischen Cabaret, Biedermeierbehaglichkeit und Noblesse Oblige.

Dazwischen: Das Schauspielhaus schlägt zurück und die Antwort auf die Frage, was eigentlich unterdessen aus den Riemerschmids geworden ist. Eine Revue.